Liebe Tochter – Kapitel VIII

Liebe Tochter, früher oder später wirst du erkennen, dass es unmöglich ist zu leben, ohne dass jemand, den wir lieben, uns verletzt. Es ist ein unvermeidlicher Teil des Lebens, so real wie die Tatsache, dass Menschen, die uns einst unermesslich glücklich gemacht haben, uns an jedem anderen Tag zerstören können.

Das passiert, weil wir im Gegensatz zu anderen Lebewesen komplexe Gehirne und Emotionen haben, die von unserer Physiologie, unseren ersten Erfahrungen in der Welt und der Umgebung, in der wir aufwachsen, bestimmt werden. All das verwebt sich zu einem unendlichen Netz von Faktoren, das im Laufe des Lebens unsere Entscheidungen und unser Denken beeinflusst. So schaffen wir schließlich ein System von Überzeugungen und Verhaltensweisen, um uns vor der Außenwelt zu schützen, ohne zu merken, dass wir dabei unser Inneres verletzen.

Im Laufe meines Lebens habe ich spektakuläre Menschen kennengelernt, Menschen, die das lebten, was ich für den perfekten Traum hielt und die ich mit bewundernden Augen betrachtete. Menschen, denen ich mich zu nähern hoffte, um ihre Geheimnisse zu entdecken und denselben Weg des Glücks zu beschreiten, den sie ausstrahlten.

Aber je näher ich kam, desto offensichtlicher wurde, dass die Perfektion, die ich wahrnahm, nur eine Seite einer Münze mit mehreren Gesichtern war.

Ich entdeckte, dass jemand ein Lächeln haben kann, das den Raum erhellt, eine bezaubernde Persönlichkeit und außergewöhnliche Intelligenz, und dennoch ganze Tage in der Dunkelheit verbringen kann. Tage, an denen er zwischen den Anforderungen seines erwachsenen Ichs und den Bedürfnissen seines inneren Kindes hin- und hergerissen ist, versucht, sich widersprechende Gedanken zu verstehen und verwurzelte Ängste zu versöhnen.

Und das kann die Geschichte von jedem sein. Das wurde mir klar, als ich, jemand, der sich sein ganzes Leben lang als emotional stark und unerschütterlich durch die Umstände präsentiert hatte, mich zum ersten Mal anspruchsvollen Situationen stellen musste.

Als das Leben vom einfachen zum mittleren Modus wechselte, wurde das, was ein Kinderspiel und meine Chance zu glänzen hätte sein sollen, zu einem Zusammenstoß mit hundert Stundenkilometern, der meine engsten Beziehungen ruinierte und gleichzeitig die Hoffnungen derer zerstörte, die am meisten an mich geglaubt hatten. Alles nur, weil ich nicht wusste, wie ich mit Stress, Druck und ein wenig Erfolg umgehen sollte.

Denn wenn sich die Türen schlossen und das Licht ausging, wurde auch ich zu einem unbeaufsichtigten Dampfkochtopf, voller unterdrückter Wünsche, Ablehnungen, Unsicherheiten und Ängste, deren Temperatur eines Tages so hoch stieg, dass eine unkontrollierte Explosion entstand.

Aber das ist nicht das Problem; wir alle haben das Recht auf einen schlechten Tag, wir alle verdienen es, uns in unsere Einsamkeit zurückziehen zu können und darauf zu warten, dass der Sturm vorübergeht. Das Problem kommt, wenn wir, wie es mir passiert ist, zu spät erkennen, dass wir alle aus demselben Holz geschnitzt sind.

Und obwohl ich nur das Beste für dich will und alles in meiner Macht Stehende tun werde, um dich zu beschützen und dir zu helfen, deine beste Version zu sein, muss ich dir gestehen, dass niemand davor bewahrt ist, Böses zu tun, genauso wie niemand davor bewahrt ist, verletzt zu werden. Und es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis jemand dich verletzt.

Und wenn es passiert, wirst du es nicht verstehen, es wird keine Erklärung geben. Es wird einfach passieren.

Als ich selbst jemandem wehgetan habe, den ich liebte, fragten sie mich immer wieder: „Warum? Warum hast du das getan?“ In diesem Moment hatte ich keine Antwort. Ich konnte nur antworten: „Ich weiß es nicht.“

Jahre später, nach hunderten von Stunden der Reflexion und der Suche nach einer Rechtfertigung in tausenden von Worten, kann ich mit Gewissheit sagen, dass ich schließlich zu einer Schlussfolgerung und einer endgültigen Antwort gekommen bin: ICH WEISS ES IMMER NOCH NICHT.

Ich weiß nicht, warum wir grundlos Schaden anrichten. Ich weiß nicht, warum unsere Instinkte ständig über unsere Rationalität siegen. Wenn wir uns für Wesen halten, die anderen Arten überlegen sind, verstehe ich nicht, wie wir manchmal so böse sein können.

Einige sagen, dass wir von Natur aus böse Wesen sind, die gezähmt werden müssen, aber selbst der freundlichste Hund kann dich an einem schlechten Tag beißen. Andere glauben, dass wir in einer Welt, in der wir um Ressourcen und Anerkennung kämpfen, keine andere Wahl haben, als egoistisch zu sein, aber wir sind voller Beispiele von Menschen, die sich hätten retten können, aber beschlossen, zu bleiben und für jemand anderen zu sterben.

Wenn du also eines Tages frustriert bist und versuchst, eine Antwort zu finden, und darüber nachdenkst, was schiefgelaufen ist und wo sich die Dinge gedreht haben, halte inne. Du wirst nirgendwo hinkommen. Die Antwort liegt nicht in den Fragen; die Antwort ist zu verstehen, dass die Welt voller beschädigter Menschen ist, die leben, ohne zu merken, dass sie ein verletztes Herz haben.

Und es geht nicht darum, die Handlungen von jemandem zu entschuldigen. Am Ende des Tages ist es einfacher, Gutes zu tun als Böses. Aber wenn wir alle verstehen würden, dass wir in einer Welt von zerbrochenen Menschen leben, wären die Augen, mit denen wir einander betrachten, anders.

Ich habe nie verstanden, wie deine Großmutter alle paar Monate den Anruf derselben Person entgegennahm, die immer wieder in ihre alten Gewohnheiten zurückfiel und dieselben Fehler wiederholte. Als wäre es das erste Mal, hörte deine Großmutter ihr wieder mit derselben Geduld zu, bot ihr dieselben Ratschläge an, von denen wir alle wussten, dass sie sie nie befolgen würde, nur damit sich die Szene nach Monaten wiederholte.

Als ich sie fragte, warum sie so viel Geduld hatte, war die Antwort deiner Großmutter einfach: jemand anderes war ihr ganzes Leben lang genauso geduldig mit ihr gewesen. Egal, wie oft sie sich irrte oder wie oft sie dieselbe Tollpatschigkeit wiederholte; es gab immer jemanden, der bereit war, sie wieder aufzunehmen, ihr zu vergeben, ihr zuzuhören und sie gehen zu lassen… bis sie unweigerlich wieder anrief.

Obwohl deine Großmutter von ihrem Freund Gott sprach, kann ich nicht umhin zu denken, dass, wenn wir alle dieselbe Geduld mit anderen hätten, die sie hat und die andere früher mit ihr hatten, wir leichter die Fähigkeit entwickeln würden, mit denen zu empathisieren, die uns verletzt haben.

Es geht nicht darum, so zu tun, als ob die Realität nicht existiert hätte, sondern Vergebung zu finden und zu akzeptieren, dass sie uns enttäuscht und verletzt haben, aber dass wir auf dieselbe Weise eines Tages, ob wir wollen oder nicht, dasselbe mit jemand anderem tun werden. Und wenn das passiert, werden wir uns wünschen, dass jemand dasselbe Mitgefühl mit uns hat.

Und vielleicht ist dasselbe Mitgefühl das, was wir uns selbst entgegenbringen sollten, diesem inneren Kind, das wir in uns tragen, beschädigt und verletzt, das wir ignoriert haben, aber das in schwierigen Momenten auftaucht und die Aufmerksamkeit sucht, die wir ihm nie gegeben haben.

Dieses Kind, das darum bittet, gesehen und akzeptiert zu werden, mit all seinen Fehlern, Illusionen und sogar seiner Bosheit. Dieses beschädigte Kind, das du manchmal in mir sehen wirst und dann diejenige sein wirst, die für seine zerbrochenen Teller bezahlen muss.

Und wenn das passiert, wird es keine Ausreden geben. Wenn ich dir wehgetan habe, hast du jedes Recht, sauer auf mich zu sein und diese Emotionen so zu verarbeiten, wie es dir am besten erscheint. Ich werde dich niemals unter Druck setzen oder versuchen, die Grenzen zu überschreiten, die du mir setzt.

Trotzdem möchte ich dir etwas versprechen:

Meine Tollpatschigkeit und meine Fehler sind nicht im Entferntesten mit der Größe der Liebe zu vergleichen, die ich für dich empfinde. Die Größe meiner Fehler spielt keine Rolle, und auch nicht, ob du dich entscheidest, mir zu vergeben. Das Einzige, was wirklich wichtig ist, ist, dass die Liebe, die ich für dich habe, stärker ist als jeder Fehler, den ich begangen habe, stärker als jede dunkle Emotion, die du mir gegenüber empfinden könntest.

Und ich entschuldige mich nicht, um meine Fehler zu entschuldigen, sondern um meine Verantwortung für sie anzuerkennen.

Aber ich möchte auch, dass du weißt, dass, wenn du eines Tages das Gefühl hast, dass du es warst, die mir auf irgendeine Weise wehgetan hat, wenn du denkst, dass es Dinge gab, die passiert sind und die ich nicht vergessen kann: mach dir keine Sorgen.

Dir gegenüber könnte ich niemals auch nur einen Funken Groll hegen. Ich werde immer stolz darauf sein, dein Papa zu sein.

Selbst wenn wir uns nie wiedersehen würden, würde ich dich weiterhin aus der Ferne lieben und unterstützen. Lebe einfach weiter, bis du findest, was du suchst und verdienst, was nicht weniger als ein fantastisches Leben ist.

Und versprich mir nur das:
Dass du versuchen wirst,
mehr zu lieben, weniger zu verletzen…
und bei dir selbst anfangen wirst.